Droht Deutschland eine Kündigungswelle?

ploya. zeigt Haltung

Droht Deutschland eine Kündigungswelle?

In vielen Industriestaaten beobachten wir gerade ein verrücktes Phänomen: Mehr und mehr Arbeitnehmer kündigen ihre Arbeitsplätze. In den USA wird seit der Pandemie so viel gekündigt und gestreikt wie nie zuvor. Auch in der EU ist die Zahl der Kündigungen während der letzten 2 Jahre um 15% gestiegen. Müssen deutsche Arbeitgeber nun darum bangen, dass ihnen ihre Mitarbeiter davonlaufen?

Die Situation in den USA

In der ersten Coronawelle sind in den USA 22 Millionen Stellen verloren gegangen und dementsprechend viele Menschen wurden arbeitslos. Wer aber davon ausgegangen ist, dass sich die verbliebenden Angestellten besonders fest an ihre Jobs klammern, hat sich getäuscht. Stattdessen überrollt eine Kündigungswelle das Land. Rund 4,3 Millionen US-Bürger haben alleine im August ihre Jobs gekündigt. Das sind fast drei Prozent aller Beschäftigten – in nur einem Monat. Auch die Monate davor wiesen bereits ungewöhnlich hohe Kündigungszahlen aus. Unternehmen können nun fast zwei Jahre später ihre frei gewordenen Stellen nicht neu besetzen. Rund 10 Millionen offene Stellen gibt es seit Monaten. Erschwert wird die Suche nach Arbeitskräften auch von der niedrigen Arbeitslosenquote von 3,9%, die im Jahr 2022 wieder Vorkrisenniveau erreicht hat.

Spannend ist, dass sich die Kündigungswelle zwar in einzelnen Branchen häuft, sich aber nicht auf diese beschränkt. Zwar sind insbesondere der Niedriglohnsektor und die Branchen Gesundheit, Gastronomie und Handel betroffen, sie betrifft darüber hinaus aber auch ganz andere Wirtschaftszweige und Gehaltsstufen. Auch Führungs-, Fachkräfte und Studierte haben ihre Stellen verlassen und sich umorientiert. Sie haben in der Pandemie festgestellt, dass die reduzierte Arbeitszeit auch mehr Freizeit, Zeit für die Familie, für neue Hobbys oder Entspannung bedeutet und das schätzen gelernt. Ihre Prioritäten haben sich verschoben und wer es sich leisten kann, reduziert seine Stunden nun auch über die Pandemie hinaus.

Kurz gesagt: Unternehmen fehlen zunehmend Arbeitskräfte. Arbeitskraft wird immer gefragter und damit wertvoller. In der Folge können Angestellte mehr für ihre Arbeit verlangen: Ein höheres Gehalt, mehr Urlaubstage oder andere Benefits, die einem persönlich wichtig sind. Wer als Arbeitgeber nicht mitziehen möchte oder kann, verliert noch mehr Arbeitskräfte. Der “Great Quit” in den USA zeigt deutlich, wie die Macht der Angestellten gegenüber ihren Chefs steigt. 

Gründe zu kündigen

Typische Gründe den Job zu kündigen sind Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen oder dem Chef oder das Gefühl, dass keine Weiterentwicklung beim aktuellen Unternehmen möglich scheint. Kündigungen häufen sich aber auch zu bestimmten Ereignissen: Zu Jubiläen, Geburtstagen, Klassentreffen und im Januar. Eben immer dann, wenn wir Zeit haben oder gezwungen sind unser aktuelles Leben zu überdenken und zu fragen, wo wir eigentlich sein und was wir erreichen wollen. Corona hat uns genau das ermöglicht. Die Pandemie hat uns aus unserem Alltags- und Gewohnheitstrott gerissen und uns gezwungen neue Wege zu finden und Prioritäten zu setzen. Das macht es leichter das Gewohnte hinter sich zu lassen und etwas Neues anzufangen. 

Hinzu kommt, dass in vielen Berufen die schlechten Arbeitsbedingungen offensichtlich und gesellschaftsfähig wurden. Wer sich heute über seinen Job in Pflege, Handel oder Logistik beschwert, trifft auf breite Zustimmung und Verständnis. Generell hat die Pandemie eins gebracht: Es ist okay zuzugeben, dass Job, Haushalt und Kinderbetreuung einem zu viel werden und deshalb die Arbeitsstunden gekürzt werden müssen. 

Droht uns in Deutschland nun eine Kündigungswelle?

Gründe und Indizien gibt es dafür. Eine Studie des Marktforschungsunternehmens Appinio zeigt, dass 66,3% der Befragten den Job wechseln würden, wenn dies sie glücklicher machen würde. Fast ein Drittel ist sogar aktiv auf der Suche nach einer neuen Stelle. 24% sind komplett unglücklich mit ihrer aktuellen Arbeitssituation. Und auch die zuvor genannten Gründe für Kündigen treffen auf den Deutschen genauso zu wie den US-Amerikaner. Aber: Die große branchenübergreifende Kündigungswelle, die wir in den USA beobachten, bleibt bisher aus.

Ein Grund dafür liegt im unterschiedlichen Arbeitsrecht. In den meisten Staaten gibt es keine gesetzlich festgelegte Kündigungsfrist und die Arbeit ist “at will” also jederzeit, auch ohne die Angabe von Gründen durch den Arbeitgeber kündbar. Das bedeutet, dass es sehr viel leichter und spontaner möglich ist, seinen Job zu kündigen. Bei uns verhindern lange Kündigungsfristen diese Spontanität. Die Kündigung ist bei uns keine kurzfristige Lösung für Unzufriedenheit am Arbeitsplatz. Sie wirkt erst Monate später. Das alleine kann jedoch nicht der Grund dafür sein, dass die Kündigungen hier nicht sprunghaft ansteigen.

Experten gehen davon aus, dass das auch die unterschiedlich strukturierten Konjunkturprogrammen einen großen Unterschied ausmachen. Während staatliche Hilfen bei uns zum Großteil an eine Beschäftigung gebunden waren (Kurzarbeitergeld) oder direkt als Hilfe an Unternehmen gezahlt wurden, floss ein Großteil der Hilfen in den USA in die privaten Haushalte,(z.B. Konjunkturchecks und erweitertes Arbeitslosengeld). Das bedeutet: Das Risiko seine Stelle zu kündigen und eine Arbeitslosigkeit zu riskieren wurde gemindert. 

Hinzu kommen kulturelle Unterschiede. Die Kulturwissenschaften zeigen, dass die Deutschen ein großes Bedürfnis nach Sicherheit und Beständigkeit haben. Sie neigen dazu, Dinge langfristig zu planen und sorgfältig abzuwägen. Dies verstärkt sich in Zeiten von Unsicherheit, wie der Pandemie, zusätzlich. Es führt zu einem konservativem und abwartendem Verhalten, also eher dem Verbleiben im bekannten Unternehmen. Währenddessen wird ein Arbeitswechsel eher als riskant oder aktuell wenig rentabel angesehen. 

Fazit

Experten sprechen bei uns nicht von einer “Great Resignation”, sondern von einer Neubewertung der Arbeit unter den Arbeitnehmern. Die Prioritäten haben sich verschoben. Der Job soll sich besser mit dem Privatleben vereinbaren lassen und flexibler werden. Das zeigt sich zum Beispiel an der anhaltenden Forderung nach Home-Office, auch in den coronaruhigen Sommermonaten. Darüber hinaus werden sich Arbeitnehmer zunehmend über ihre Macht bewusst. Pflege und Handel haben die Chance ihre Lobby zu nutzen und aktiv für bessere Arbeitsbedingungen und mehr Gehalt zu kämpfen. Und auch in anderen Branchen sorgen Fachkräftemangel und demografischer Wandel, dafür, dass Unternehmen dafür arbeiten müssen, ihre Mitarbeiter zu halten. Ob dies irgendwann dazu führt, dass die große Kündigungswelle zu uns rüberschwappt, können auch die Arbeitsmarktexperten nicht voraussagen. Unternehmen sollten sich aber darauf vorbereiten, dass sie in Zukunft mehr darum kämpfen müssen, die besten Arbeitnehmer für sich zu gewinnen und zu halten.